25,70 km – 06:44 h

Was für eine Nacht! Auf diesem durchgelegenen Drahtgeflecht mit einer dünnen Schaumstoffmatte als Matratze ist schlafen war quasi unmöglich. Ich versuche vergeblich irgendeine Position zu finden, in der ich etwas Ruhe finden kann. Scheinbar bin ich dann doch ein wenig weggedöst. Ich schrecke mitten in der Nacht (2:30 Uhr) auf, schaue aus dem Fenster. Die Aussicht auf Polarlichter ist heute null, das war gestern Abend ja schon klar. Jetzt sehe ich allerdings überhaupt gar nichts. Okay, denke ich, die Scheibe ist völlig beschlagen. Ich drehe mich um und ignoriere meinen schmerzenden Rücken. Das nächste Mal wache ich um 5:30 Uhr auf und traue meinen Augen nicht. Nicht die Scheibe ist beschlagen, draußen ist alles weiß in weiß. Es hat in der Nacht heftig geschneit. Einen Moment lang schleicht sich Panik an mich heran. Dann versuche ich mich zu beruhigen und denke über meine Optionen nach. Erstens: ich kann wieder einen Tag Pause machen und schauen, wie sich das Wetter morgen entwickelt. Zweitens: ich gehe zurück nach Olderfjord und nehme von dort den Weg an der Straße entlang bis zum Kap. Drittens: ich beiße die Zähne zusammen und gehe den geplanten Weg durch das Fjell.

Immer wieder studiere ich die Wetterprognose für heute und die nächsten zwei Tage. Morgen soll es richtig heftig regnen aber ab Sonntag wird es angeblich wieder etwas besser. Nur vertrauen kann ich darauf nicht. Oft genug habe ich jetzt erlebt, dass die Wetterprognose nichts mit der Realität zu tun hat. Ich liege in meinem Schlafsack und wälze die drei Optionen in meinem Kopf hin und her, kann aber keine Entscheidung für mich finden. Hierbleiben und den Tag in dieser ungemütlichen Hütte verbringen möchte ich auf keinen Fall. Wenn ich zurück laufe, kenne ich zwar den Weg, der sicher auch bei Schnee gut begehbar ist, muss dann anschließend aber 4 Tage lang Straße laufen und verliere zwei Tage für das hin und her. Zeitlich wäre das kein Problem, aber dann fällt mir noch ein, des möglicherweise schwierig ist an der E 69 Zeltplätze zu finden. Irgendwann schreibe ich Martin an und frage nach Informationen und seiner Einschätzung der Situation. Dann telefoniere ich mit Max und Phillip, die beide den Weg schon gelaufen sind. Für mich macht sich jetzt erneut der zweite große Nachteil des Alleinlaufens bemerkbar. Es gibt niemanden, mit dem man eine Entscheidung durch diskutieren kann. Ich bin hin und hergerissen, ringe mich dann aber endlich dazu durch weiter zu laufen wie geplant. Etwa 25 km sind es bis zur Várdáncokka, einer kleinen Nothütte.

Ich packe sorgfältig meinen Rucksack, ziehe einen Merino Pullover über das Langarm Shirt, darüber die Thermojacke und das Regenzeug. Ein letzter Blick durch die Hütte, dann mache ich mich auf den Weg. Der Wind ist tatsächlich deutlich abgeflaut und es schneit jetzt nicht mehr. Ich gehe vorsichtig und muss teilweise den Weg mit den Stöckern „ertasten“. Trotzdem funktioniert es so recht gut.

Ich folge den Markierungen des E1 und quere gleich zu Beginn eine recht große Sumpffläche. Rücksicht auf trockene Schuhe kann ich heute nicht nehmen. Es ist auch egal, ob es der nasse Schnee ist oder ich in ein Wasserloch trete. Die Schuhe sind nach 20 Minuten sowieso durchweicht. Daher spare ich mir auch den Schuhwechsel bei der folgenden Flussquerung. Der Weg führt nach etwa sieben oder acht Kilometern auf den Grat eines Höhenzuges hinauf. Hier wird es jetzt spannend, denn ich muss über große Geröllfelder und kann nicht wirklich erkennen, wohin ich trete. Aber langsam und vorsichtig komme ich doch voran. Oben angekommen wird die Navigation recht einfach: ich folge immer einem Rentierzaun und kann mich so ganz auf meine Schritte konzentrieren.

Mittlerweile ist die Wolkendecke aufgerissen und es wird sonnig, von dem vorhergesagten Regen ist weit und breit nichts zu sehen. Einen Teil meiner Zwiebelschichten ziehe ich wieder aus, sonst bin ich sofort klatschnass. Unter diesen Bedingungen macht mir der Weg sogar richtig Spaß. Ich bekomme völlig neue Eindrücke der norwegischen Landschaft zu sehen. Dass das Wetter tatsächlich noch so umschlägt, ist ein großes Glück.

Nach den ersten 15 km merke ich langsam, wie anstrengend das vorsichtige Laufen durch den Schnee ist. Immer wieder rutschen die Trekkingstöcke auf den schneebedeckten, verborgenen Steinen weg und auch die Schuhe finden oft keinen Halt. Gegen Mittag zieht sich der Himmel langsam wieder zu und auch meine gute Laune trübt sich mit zunehmender Wolkendecke ein. Ich will nur noch an der Nothütte ankommen.

Um 15:30 Uhr sehe ich dann meine heutige Unterkunft. Eine kleine Bretterbude von circa zweimal 2 m. Darin ein gezimmertes Stockbett, ein Sessel und ein kleiner Tisch. Dass es hier keinen Ofen gibt, war mir bekannt, aber hier habe ich immer noch mehr Schutz als in meinem Zelt. Ich versuche die nassen Sachen irgendwie aufzuhängen, ziehe mich um und krieche sofort in den Schlafsack. Nach einem heißen Tee und ein paar Keksen fühle ich mich langsam wieder etwas wohler. Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist zu hoffen, dass es morgen wirklich nur bei Regen bleibt und nicht noch mehr Schnee fällt. Auf dem Programm stehen dann noch einmal 25 km bis vor den Nordkap Tunnel.

Fazit: ich fühle mich müde. Nicht körperlich, sondern geistig. Warum brauche ich 5 Stunden, um eine Entscheidung zu fällen, wie ich weitergehen will? Na gut, körperlich natürlich auch. Während des Laufens habe ich heute darüber nachgedacht, wie viel Sinn es macht bei Minusgraden, Schnee oder Regen tatsächlich bis zum Knivskjellodden zu laufen. Warum nicht gleich zum Touristen-Nordkap und von dort mit dem Bus nach Honnigsvåg? Eine Option, die ich mir offen halten werde.

Trotzdem war dieser Tag eigentlich ein großer Erfolg. Bei Sonnenschein durch das schneebedeckte Fjell zu laufen ist noch einmal ein ganz neues Erlebnis, dass ich bei aller Anstrengung nicht missen möchte. Ein großes Dankeschön an Max, Phillip und Martin für Ihre Einschätzung und Entscheidungshilfen.