12,98 km – 02:35 h

Wie beendet man einen Traum, auf den man sich drei Jahre lang vorbereitet hat?

Ich liege im Zelt und genieße die Wärme meines Schlafsacks. Immer wieder schaue ich auf die Wetterprognose für heute und morgen. Heute wird es vergleichsweise gut. Nur teilweise bewölkt und weitgehend sonnig. Morgen sieht es dagegen ganz anders aus. Gerade in den frühen Morgenstunden und am Vormittag soll es recht heftigen Regen geben, dazu gibt es wieder kräftigen Wind mit Böen bis 50 km/h. Ich bin jetzt schon eine ganze Weile wach und grüble darüber nach, wie ich das Ende meiner Wanderung gestalte. Gehe ich wie geplant zum Knivskjellodden und übernachte dort noch einmal im Zelt, dann werde ich in der Nacht und morgen mit starkem Wind und heftigem Regen zu kämpfen haben. Von Viktors Vater habe ich die Information, dass der Weg dorthin sehr nass und sumpfig ist. Aber ich habe die letzte Gelegenheit, noch einmal für mich alleine in der Natur zu übernachten und einen emotionalen Abschluss meiner Wanderung zu finden. Die zweite Option ist, dass ich heute bei gutem Wetter und Sonnenschein direkt zum Nordkap laufe, die letzten Kilometer in trockenen Schuhen und mit trockenen Klamotten zurücklegen und dort bei Kaffee und einer heißen Waffel meine eigene kleine Abschlussparty feiere. Dann allerdings muss ich eine weitere Nacht im Hostel schlafen. Das ist nun keine wirklich schreckliche Vorstellung, aber ich muss mir überlegen, wie ich vier volle Tage in Honningsvåg verbringe. Ich kann mir schon gut vorstellen, dass mir ein emotionaler Abschluss meiner Wanderung auch in einem gemütlichen Café mit Blick auf die Schiffe im Hafen gelingen könnte…

Ich denke, ich wähle die sonnige Variante. Um 9:00 Uhr fange ich an, mein Lager abzubrechen. Das letzte Mal Müsli und Kaffee im Zelt, das letzte Mal den Rucksack packen, das letzte Mal im Regen das Zelt abbauen. Dabei bekomme ich tatsächlich „Schluckbeschwerden“ und der Kloß in meinem Magen wird immer größer.

Ein letzter Blick über meinen letzten Zeltplatz und das letzte Mal die Kontrolle, ob ich etwas vergessen habe. Dann mache ich meine NPL Playlist an und laufe los. Ich werde den Weg auf der E 69 zurücklegen.

An dem Hinweisschild zum Knivskjellodden überlege ich noch einmal abzubiegen, aber den Gedanken an noch eine weitere Nacht alleine, bei heftigem Wind und Regen, kann ich mir jetzt nicht mehr vorstellen. Also fällt die Entscheidung endgültig zu Gunsten des „Touristenkaps“. Ich ziehe jetzt durch und bringe die Tour heute zu Ende..

Kaum ist die Entscheidung gefallen brechen tatsächlich die Emotionen über mich herein. Bei jedem Lied meiner Playlist für die NPL Tour kommen wieder Erinnerung an die vergangenen 134 Tage hoch. Ich bin selber überrascht, wie ich gerade darauf reagiere, dass meine lange Wanderung zu Ende geht. Sogar während ich diese Zeilen diktiere kommen Tränen in die Augen. Der letzte Blick über die weiten, felsdurchsetzten Ebenen Norwegens im Hintergrund die Barentssee… der Gedanke, fast 2800 km durch Norwegen gelaufen zu sein ist unglaublich und ich glaube nicht, dass ich das so schnell realisieren kann. Vielleicht ist es ganz gut noch vier Tage für mich alleine in Honningsvåg zu haben.

Ich lege mich mächtig ins Zeug und versuche das Gefühlschaos mit der körperlichen Anstrengung in den Griff zu bekommen. Nach nur 2,5 Stunden habe ich fast die ganze Strecke von knapp 13 km hinter mich gebracht. Für meinen „Zieleinlauf“ mache ich mir die letzten beiden Stücke meiner Playlist an, die ich bisher noch nie abgespielt habe. Jetzt nützt auch kein Laufen mehr. Einem „gestandene Mann im mittleren Alter“ laufen die Tränen über das Gesicht, weil er vor einem blauen Schild steht:

Klingt etwas so als hätte ChatGPT den letzten Absatz geschrieben und ich bin der letzte, der geglaubt hätte, dass mich das Ende meiner Wanderung so mitnimmt.

Ich reiße mich zusammen, wische mir die Tränen aus dem Gesicht und bringe die letzten Meter hinter mich. Am Kassenhäuschen empfängt mich ein freundlicher Mann, der mir gleich einen Sticker für den freien Eintritt überreicht. Für Hiker und Biker ist der Eintritt kostenfrei, erklärt er. Es folgen einige Hinweise auf die Sehenswürdigkeiten, die ich aber gar nicht mehr wahrnehme. Ich laufe direkt zum Nordkap Monument, der großen stählernen Weltkugel. Dort stehen noch Viktor und seine Eltern, die mir sofort herzlich gratulieren. Auch einige der in der Nähe stehenden Touristen beglückwünschen mich, nachdem sie erfahren haben, was denn eigentlich der Grund ist.

Nach den obligatorischen Fotos (ich habe das große Glück noch vor der ersten Busladung angekommen zu sein) gehe ich in das Nordkap-Café. Dort lädt mich Arne, Viktors Vater, an ihrem Tisch ein, aber ich lehne dankend ab und brauche erst einmal ein paar Minuten für mich alleine. Auf einen Kaffee eine frische Waffel und eine Cola verzichte ich trotzdem nicht. Danach schaue ich mir die Ausstellungen und den Film an. Zeit habe ich genug, da mich Viktor und seine Familie im Auto bis nach Honningsvåg mitnehmen. auf den nur einmal täglich fahrenden Bus brauche ich also keine Rücksicht zu nehmen.

Um 16:00 Uhr stehe ich vor vor meiner letzten Unterkunft, einem Wandererheim. An der Rezeption weiß man bereits Bescheid, dass ich komme und ich kann mein Zimmer beziehen, obwohl eigentlich wegen des Saisonendes keine Touristen mehr aufgenommen werden. Die Unterkunft ist einfach und schlicht, so aber im Gegensatz zu den drei Hotels im Zentrum vergleichsweise günstig. Außerdem muss ich mich ja erst langsam wieder an den Komfort jenseits von Isomatte und Zelt gewöhnen.

Nach einer heißen Dusche geht es dann in den nahe gelegenen Supermarkt um einzukaufen. Auch hier heißt es jetzt wieder umdenken. Ich brauche keine Nüsse mehr und nicht für jeden Abend eine große Tafel Schokolade. Ich kann Obst und Gemüse einkaufen, sogar richtig kochen ist kein Problem im Hostel. Trotzdem bleibt es für heute bei einer Dose Bier, einer Tüte Chips und Tiefkühlpizza. Den echten Einkauf mache ich lieber morgen nach dem Frühstück.

Fazit: nach 134 Tagen und knapp 2750 km (mehr oder weniger) geht mein Norge på langs Abenteuer zu Ende. Damit ist dies auch der letzte Tagesbericht meiner Reise. Die nächsten drei Tage versuche ich hier in Honningsvåg einen klaren Kopf zu bekommen. Dann geht es mit den Hurtigrouten auf dem Seeweg bis nach Bergen. Von dort mit den Bergenbanen nach Oslo und einen Tag später mit der Fähre nach Kiel, wo mich Pe abholt. Im Laufe der Rückreise gibt es noch einmal einen abschließenden „Epilog“, trotzdem geht jetzt schon ein herzliches Dankeschön an alle Mitleser, die mich durch die vielen lieben Kommentare, hier im Blog oder als persönliche Nachricht, immer wieder auf‘s Neue zum Weiterschreiben motiviert haben.

Finisher-Beer