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Nach einer guten Nacht in einem etwas sehr weichen Hotelbett sitze ich am Frühstückstisch, starre in den Regen und freue mich, dass ich die 11 km nach Fjällnäs nicht laufen muss… zur „Strafe“ wirft mich dieser Plan gute 12 km nach Süden zurück… trotzdem: Wie schön, dass ich heute nicht nass werde. Wie schön, dass ich in wenigen Stunden erst Nina und Berndt, dann wir alle zusammen, Marlies und Dietmar wieder sehen (ich hoffe wir müssen nicht einen weiteren Pausentag einlegen um den Kater auszukurieren). Andererseits drängt es mich innerlich sehr, endlich wieder „Strecke zu machen“. Langsam fühle ich mich wie auf einer gebuchten Pauschalreise, mit all den Annehmlichkeiten und kurzen Fjellwanderungen.

Während ich gemütlich bei Kaffee und O-Saft auf mein Taxi nach Fjällnäs warte habe ich Zeit über die letzten 50 Tage und 1000 km nachzudenken. Für mich ist es der richtige Zeitpunkt eine kurze Bestandsaufnahme zu machen und den aktuellen Status festzuhalten:

Physisch – geht es mir sehr gut. Es gab bisher keine Blasen, keine schwerwiegenden Verletzungen bis auf ein paar Kratzer. Füße, Beine, Rücken und Schultern beschweren sich zwar über die Belastungen, verrichten ihre Arbeit aber sonst sehr zuverlässig. Das Stechen im unteren Rücken (Ischias?) ist komplett verschwunden, auch die Probleme in der Hüft-/Leistengegend werden, abhängig vom Weg, immer weniger und ich bin ehrlich überrascht, wie gut ich mit dem Rucksackgewicht zurecht komme. Nach langen Strecken schmerzen abends im Zelt die Beine, ähnlich wie damals im Marathon-Training (ShineSplint / Schienbeinkantensyndrom) aber ich habe nicht das Gefühl, dass es zu ernsthaften Problemen kommt. Andernfalls gibt es halt wieder mehr Pausen und kürzere Strecken. Etwas unangenehm ist die Tatsache, dass am linken Fuß die Zehen etwas taub und gefühllos sind, wie „eingeschlafen“. Dr. Google sagt, das ist entweder ein Zeichen von Diabetes, was ich wohl ausschließen kann, oder es wird verursacht durch Druck auf Nervenzentren im Fuß – durch zu feste Schnürung oder Belastung beim Gehen. Grundsätzlich schränkt mich das nicht ein, ich muss nur aufpassen, dass ich mir nicht doch unbemerkt Blasen laufe. Durch geänderte Schuhbindung hat sich aber auch das etwas gebessert. Alles in Allem fühle ich mich körperlich recht fit und habe bestimmt schon fünf oder sechs Kilo „Gepäck“ verloren – obwohl ich alles esse, was irgendwie in meine Reichweite kommt.

Psychisch – kann ich mich noch nicht konkret einordnen. Ich habe das Gefühl, dass ich mittlerweile auf der Tour wirklich angekommen bin und meinen neuen Job, das Wandern, sehr mag. Ich habe allerdings noch recht viel Mühe mit den emotionalen Stimmungsschwankungen. Von Euphorie bis Niedergeschlagenheit wechseln sich die Gefühle manchmal mehrfach täglich ab. Aber vielleicht ist das auch ganz natürlich, wenn man derart der Natur ausgesetzt ist. Da gibt ein einzelner Sonnenstrahl schon mal Anlass seine Freude in die Landschaft zu schreien oder zu fluchen, wenn ich schon wieder die Regenjacke rausholen muss. Wie schon vor Beginn der Tour vermutet, ist der Umgang mit dem Alleinsein für mich die größte Herausforderung. Besonders vermisse ich natürlich Pe, auch wenn wir fast täglich telefonieren. Nicht nur wenn etwas schief läuft oder ich grade ein „Tief“ habe, sondern ganz besonders, wenn ich etwas unglaublich Schönes sehe oder erlebe. Wenn ich daran denke wie lang die Zeit noch ist bis wir uns wiedersehen, kommen mir immer noch Zweifel… Auch das heutige Wiedersehen mit unseren Freunden zeigt mir, wie sehr mir der Austausch mit lieben Menschen fehlt. Ein wenig hilft da der Kontakt zu unserer „Trailcommunity“, zu Simone, Stefan, Kathi, aber auch zu den noch Unbekannten (Jens, Nadja, Anja u. Mel, Martin… eigentlich eine ganze Menge Leute!). Der Austausch über Routen aber auch nur das Lesen der jeweiligen Blogberichte oder Instagram-Posts geben das Gefühl eben nicht alleine zu sein. Trotzdem würde ich zu diesem Zeitpunkt sagen, dass das Alleinreisen eine wichtige und gute Erfahrung ist, die ich nicht bereuen aber auch nicht wiederholen werde – jedenfalls nicht für eine so lange Zeit. Mag sein, dass sich das noch in die eine oder andere Richtung verschiebt… mal sehen.

Ausrüstung – das Thema habe ich ja schon mehrfach in den Tagesberichten angesprochen. Grundsätzlich funktioniert meine Ausrüstung. Der Zeltausfall kann ja kompensiert werden – übrigens hat sich Nordisk auf meine Mail gemeldet und ohne Zögern bereit erklärt einen neuen Gestängebogen kostenfrei zur Verfügung zu stellen! Vielen Dank dafür!! Der Rucksack ist immer mal wieder zu schwer, lässt sich aber sehr gut tragen und lässt auch noch keinerlei Anzeichen von Verschleiß erkennen. Die Schuhe – nun gut, welche Wanderschuhe werden schon zu einer Kilometerleistung in dieser Größenordnung genötigt? Sohlen und Verklebungen sind immer noch in Ordnung, die GoreTex-Membran hat allerdings aufgegeben. Ich habe in meinen Paketen immer Schuhwachs und habe auch gestern reichlich nachgewachst, vielleicht verzögert das den Wassereintritt ein wenig. Auf jeden Fall hilft auch das rechtzeitige Anziehen der Gamaschen. Von komplett trockenen Füßen kann ich mich aber wohl erstmal verabschieden, bis in Sulitjelma das neue Paar auf mich wartet (so etwa in gut zwei Monaten). Die Regenhose ist definitiv wasserdicht, bei meiner Jacke bin ich mir noch nicht sicher ob die Nässe von außen oder innen kommt. Im Moment mache ich mir am meisten Gedanken über meine „Stromversorgung“. Je weiter ich nach Norden komme, desto seltener werden die Lademöglichkeiten für die Powerbank. Insbesondere das Handy ist ein echter Stromfresser und muss täglich nachgeladen werden. Ich befürchte, dass ich die Gerätenutzung zukünftig deutlich einschränken und auch die Navigation primär über das Garmin machen muss. Das bedeutet dann wohl auch, dass meine täglichen Berichte unregelmäßiger hochgeladen werden. Obwohl die beiden Geräte (1x 10k und einmal 20k) die vergleichsweise schwersten Gepäckstücke sind, werde ich beide weiter behalten. Ein weiterer Punkt ist die Gasversorgung. Entgegen meiner bisherigen Kenntnisse ist das Nachkaufen der Kartuschen nicht an „jeder Tankstelle“ möglich. An meinen Paketstationen habe ich aber immer die Möglichkeit Ersatz zu bekommen und bisher komme ich erstaunlich weit mit einer Kartusche.

Verpflegung – ist ein eigenes Thema. Das ich meine Paketinhalte etwas problematisch aufgeteilt habe, habe ich ja schon berichtet. Ich werde auch zukünftig einiges verschenken, zurückschicken oder entsorgen müssen. Oder auch mal einige Tage sehr viel Gewicht an Proviant schleppen. Nach den nächsten sieben Tagen wird es in Storlien die letzte große Einkaufsmöglichkeit bis Kilpisjärvi geben, danach nur noch Dörfchen die eine kleine Nærbutikk (Tante-Emma-Laden) haben. Ganz allgemein fehlt mir aber nichts und auch im Norden gehe ich nicht davon aus verhungern zu müssen.

Aber weiter im Tagesbericht:

Um ca. 13:30 stehen Nina und Berndt dann vor dem Hotel und laden mich ein. Die kurze Fahrt auf die schwedische Seite zum Fjällnäs-Camping versetzt mich fast in einen Geschwindigkeitsrausch. 50 Tage keine Autofahrt, da sind dann 12 Kilometer in 9 Minuten schon krass… Auf dem Platz werden wir in der Rezeption von Hanns empfangen, der schon über alles Bescheid weiß – wer wir sind, das ich Norge på langs laufe… ich bekomme sogar 50% Rabatt auf die Übernachtung!

Dann wird erstmal aufgebaut und ich darf zum ersten Mal mein neues Zelt auspacken. Der erste Eindruck ist phänomenal und das Raumgefühl ist überwältigend. Natürlich muss sich das Zelt erst bewähren, aber ich habe ein gutes Gefühl und bin sehr zuversichtlich.

Den Abend verbringen wir mit gegrillten Steaks, Bier und Whisky und irgendwie fühlt es sich an als säßen wir zusammen bei uns im Garten – nur Pe fehlt in der Runde. Als es draußen zu kalt wird verlegen wir unser Treffen in die recht gemütliche Küche, dort wird die 1000-Kilometer-Feier dann fortgesetzt. Trotzdem soll es morgen nach einem guten Frühstück dann zusammen mit Berndt weiter gehen.

Fazit: für gute Freunde spielt Entfernung keine Rolle.