25,72 km – 10:47 h

Ich habe trotz des schönen Abends gestern, sehr schlecht geschlafen. Einen Grund dafür gibt es eigentlich nicht, außer vielleicht die Tasse Schwarztee…!? Entsprechend unausgeschlafen koche ich mir heute früh einen Kaffee und lese während des Frühstücks ein paar Seiten in meinem Buch. Im Zimmer meiner Weggefährten rührt sich noch nichts, aber es ist ja auch noch Zeit. Von Gaundalen geht es heute über Holden (der zweite, mittlerweile stillgelegte, Fjellhof) nach Gjefsjøen (der Dritte im Bunde, jetzt Schaffarm, Gästehaus und Museum). Über die Strecke bis Gjefsjøen habe ich schon eine Menge gehört und gelesen – bin gespannt was uns erwartet. Bis zum letzten Jahr gab es noch eine alte Telegrafenleitung, die den Weg von Gaundalen über Holden nach Gjefsjøen markierte und der die NPL-Läufer in der Regel gefolgt sind. Die Masten wurden aber abgebaut und nur in einigen Abschnitten ist der alte Pfad noch zu erkennen.

Blick zurück auf Gaundalen

Um 06:30 sind wir unterwegs und beginnen den Morgen mit einem schweißtreibenden Anstieg durch hohes Gras und dichten Wald. Ja es ist sumpfig, aber die Bremsen, Fliegen, Mücken und Knots lassen uns weitgehend in Ruhe – ist wohl noch nicht Frühstückszeit.

Meine Beine fühlen sich heute an wie Blei und der Anstieg fällt mir sehr schwer. Überhaupt frage ich mich, wo denn meine Kondition geblieben ist!? Vielleicht liegt es an zu wenig Schlaf, aber auf jeden Fall ist es ein deutliches Zeichen, dass nach 13 Tagen ein Pausentag überfällig ist. Ich versuche also weniger über den beschwerlichen Weg nachzudenken und mich gedanklich mit den Plänen für den Pausentag in der Gjefsjøen Gjestegård zu beschäftigen.

Unser Zwischenziel Holden erreichen wir nach etwa vier Stunden und machen hier ein ausgedehnte Pause. Holden besteht aus mehreren Gebäuden, einer Statskog-Hytta und einer DNT- Hütte, die sich das ganze Jahr mit dem DNT-Standardschlüssel öffnen lässt. Obwohl die Hütte beim DNT als „unbedient“ geführt wird, finden wir zu unserer Überraschung noch einige Vorräte. So gibt es dann eben zum zweiten Frühstück Dosennudeln in Tomatensauce und eine heiße Schokolade. Hauptsache es ist warm und macht satt. Ich genieße die Wärme und trockne meine Sachen, sogar die aktuelle Wetterprognose empfangen wir hier und die sieht alles andere als gut aus. In zwei Stunden soll ein Gewitter über uns hinweg ziehen. Also heißt es Aufbruch um noch möglichst viel Strecke „im Trockenen“ zu schaffen. Wobei von „Trocken“ keine Rede mehr sein kann, nach ein paar Minuten bin ich in den Regensachen nass geschwitzt.

Der zweite Teil ab Holden ist deutlich anspruchsvoller. Wir folgen wieder grob der Route von Sophie, aber immer wieder müssen wir die Richtung kontrollieren, kämpfen uns durch Unterholz und Waldstücke, queren Sumpfflächen… das Gehen in dem nassen Gelände erfordert bei jedem Schritt einen Kraftaufwand um die Schuhe aus dem Sumpf zu ziehen.

Etwa sechs bis acht Kilometer vor Gjefsjøen wechseln wir wieder auf den Telegrafenpfad. Der ist jetzt relativ gut erkennbar und das Gehen fällt etwas leichter. Der Pfad für zwar sehr nah an das Seeufer heran, ist aber auch nicht viel sumpfiger als die andere Strecke weiter weg vom Ufer. Mir scheint, dass der Weg kein Ende nehmen will und nur die Vorstellung von einer gemütlichen Hütte, einem leckeren Abendesse und einem kalten Bier treibt mich vorwärts.

Brücke über den Kasttjønnelva kurz vor Gjefsjøen

Auch wenn es sich nicht so anfühlt, aber jeder Schritt bringt mich dem Ziel etwas näher. Wir stoßen auf einen Schotterweg der zum Bootsanleger führt und endlich kommen die Gebäude von Gjefsjøen in Sicht: Das Wohnhaus, mehrere kleine Hütten und Nebengebäude und ein großes Wirtschaftsgebäude. Wir steuern auf das Wohnhaus zu und machen auf uns aufmerksam.

Christian kommt heraus, ich nenne unsere Namen, aber offensichtlich weiß er nicht viel mit uns anzufangen. Ich erinnere ihn an die Buchungen per Mail, die er gleich auf dem Handy sucht und findet. Ja, stimmt wir hatten uns angemeldet und Christian hat die Buchungen auch bestätigt, aber leider sind alle Hütten belegt! Als Notlösung bietet er uns an in seinem „Restaurant“ auf Matratzen zu übernachten und führt uns in das oberen Geschoss der Scheune. Der Raum ist sehr groß, hell mit großen Panoramafenstern und einer Küche. Das Ambiente eines Kneipensaals, den man bei uns normalerweise für Familienfeiern und Partys vermietet. Es sieht auch so aus, als hätte die letzte Feier grade erst stattgefunden. Alles ein wenig chaotisch, unaufgeräumt und irgendwie „unfertig“ und es entspricht nicht ansatzweise dem, was ich mir den ganzen Weg über erträumt habe. Zwar besser als ein Zelt, aber hier soll ich meinen „wertvollen“ Pausentag auf einer Matratze verbringen?? Auch Simone und Stefan sehen enttäuscht aus, aber was haben wir für eine Wahl? Der Pausentag ist dringend nötig denn die nächsten vier Tage müssen wir uns weglos durch das Blåfjell schlagen, bevor wir wieder die Zivilisation erreichen.

Die Frage nach einem Abendessen scheint Christian auch etwas aus dem Konzept zu bringen, aber er kann Spaghetti anbieten. Gut, Nudeln gab es ja zwar auch schon zum Frühstück, aber schließlich sind Kohlehydrate wichtig… immerhin bessert sich die Laune ein wenig, als er auf meine Frage nach einem kalten Getränk drei Dosen Bier aus dem Nebenraum holt. Wir richten uns ein wenig ein, belegen die Stühle mit unseren nassen Sachen, setzen uns an einen der vielen Tische und trinken das Bier. Nach einer Weile taucht Christian wieder auf und macht sich in der Küche zu schaffen. Eine halbe Stunde später steht dann ein großer Topf Spaghetti auf dem Tisch, dazu gibt es als Soße eine Art Chili con Carne mit Bohnen und Hackfleisch aber ohne scharf – die norwegische Variante einer Bolognese. Kannte ich so auch noch nicht, schmeckt aber nicht schlecht. Christian setzt sich zu uns und isst mit. Wir unterhalten uns viel und er erzählt von seinem Leben hier auf dem Hof, einem Interview das er im deutschen Radio gegeben hat und von seinen bisher erfolglosen Kontaktanzeigen… wirklich ein schräger Typ, aber auf seine chaotische Art sehr nett und offensichtlich scheint er es zu genießen mit seinen Gästen reden zu können.

Da Simone und Stefan hier mit Vollverpflegung gerechnet und ihre Rationen entsprechend kalkuliert haben, fragen sie noch nach Frühstück und wieder gerät Christian etwas ins Schleudern, kommt aber dann mit einem eingefrorenen Brot, Käse und Marmelade aus seiner Wohnung wieder. Improvisation ist hier eben lebensnotwendig und Vorräte scheint es genug zu geben.

Später tragen wir Matratzen in unseren Saal und richten, so gut es geht, unsere Lager her. Ich bin völlig erledigt und beim Schreiben meines Berichtes fallen mir ständig die Augen zu – also genug für heute!

Fazit: die Bereitschaft sich auf unerwartete Situationen einzustellen und meinen Perfektionismus mal zu vergessen werden immer mehr zu wichtigen Grundvoraussetzungen dieser Reise.